Hume: Die Mechanik des Geistes
David Hume (1711–1776) ging Lockes Weg konsequent zu Ende. Er wollte
"die geheimen Triebfedern und Prinzipien entdecken [ . . . ], durch welche die Operationen des menschlichen Geistes ausgelöst werden",
so wie Newton
"die Gesetze und Kräfte bestimmt hat, die den Umlauf der Planeten regieren und lenken"
und wie es "in anderen Bereichen der Natur vollbracht" wurde.
Begrifflich schärfer als Locke unterschied er bei unseren Vorstellungen (perceptions) zwischen den unmittelbaren "Eindrücken" (impressions),
"wenn wir hören, sehen, fühlen, lieben, hassen, begehren oder wollen",
und den schwächeren "Gedanken" (thoughts, ideas),
"welche die weniger lebhaften Perzeptionen sind, deren wir uns bewußt sind, wenn wir auf eine der obenerwähnten Wahrnehmungen oder Gemütsbewegungen reflektieren",
als "Abbilder unserer Eindrücke". Das ist "der ganze Stoff des Denkens", die
"ganze schöpferische Kraft des Geistes [besteht] nur in dem Vermögen, das uns durch die Sinne und Erfahrung gegebene Material zu verbinden, zu transponieren, zu vermehren oder zu verringern",
und – so lautete seine Herausforderung an die philosophische Welt –
"diejenigen, die behaupten wollten, daß dieser Satz nicht allgemein und ausnahmslos wahr sei," sollten "zu seiner Widerlegung [ . . . ] jene Vorstellung vorweisen, die [ . . . ] nicht aus dieser Quelle stammt".
Was läßt sich aus diesem Stoff schneidern, wie kann das Material verbunden werden, was kann gesagt werden über "die Assoziation der Vorstellungen"?
"Für mich ergeben sich nur drei Prinzipien der Vorstellungsverknüpfung, nämlich Ähnlichkeit, raum-zeitliche Berührung und Ursache oder Wirkung."Weiter unterscheidet er: "Alle Gegenstände menschlichen Denkens und Forschens lassen sich naturgemäß in zwei Arten gliedern, nämlich in Vorstellungsbeziehungen (Relations of Ideas) und in Tatsachen (Matters of Fact)".
Zur ersten Art gehören – neben direkten Vergleichen von Eindrücken wie rot ist nicht grün – vor allem die Sätze der Mathematik wie
"drei mal fünf ist der Hälfte von dreißig gleich"
(die Mathematik handelt nicht von der Wirklichkeit, sie spricht nur von dem, was sie sich selbst geschaffen hat).
"Sätze dieser Art lassen sich durch bloße Denktätigkeit entdecken, unabhängig davon, ob irgendwo im Weltall etwas existiert".
Die Wahrheit von Tatsachen ist nie so evident, ihr Gegenteil ist – rein logisch gesehen – immer möglich:
"Daß die Sonne morgen nicht aufgehen wird, ist ein nicht minder einsichtiger Satz und enthält keinen größeren Widerspruch als die Behauptung, daß sie aufgehen wird".
Wenn es also nicht möglich ist, seine Falschheit im strengen Sinne zu beweisen, so gilt es,
"das Wesen jener Evidenz zu untersuchen, die uns jedes wirklich Existierenden und jeder Tatsache versichert, die über das gegenwärtige Zeugnis der Sinne oder die Angaben unseres Gedächtnisses hinausgehen. [ . . . ] Alle Tatsachen betreffenden Vernunfterwägungen scheinen auf der Beziehung von Ursache und Wirkung zu beruhen. [ . . . ] Wollen wir somit eine zufriedenstellende Erklärung für das Wesen jener Evidenz der Gewißheit von Tatsachen erlangen, haben wir zu untersuchen, wie wir zur Erkenntnis von Ursache und Wirkung kommen".
Nun folgt seine berühmte Analyse der Kausalität, der "skeptische Zweifel an den Verstandestätigkeiten" und die "skeptische Lösung dieser Zweifel:
"Ich wage es, den Satz als allgemeingültig und keine Ausnahme duldend aufzustellen, daß die Kenntnis dieser Beziehung in keinem Falle durch Denkakte a priori gewonnen wird, sondern ausschließlich aus der Erfahrung stammt, indem wir feststellen, daß gewisse Gegenstände immerdar miteinander verbunden sind. Man lege einem noch so klugen und fähigen Menschen einen Gegenstand vor; ist ihm dieser gänzlich fremd, wird er – trotz sorgfältigster Untersuchung seiner sinnfälligen Qualitäten – nicht fähig sein, irgendeine seiner Ursachen oder Wirkungen zu entdecken. [ . . . ] Die Schlüsse, die [die Vernunft] aus der Betrachtung eines Kreises zieht, sind die gleichen, die sie auf Grund einer Prüfung aller Kreise der Welt ziehen würde. Aber niemand, der nur einen Körper gesehen hat, wie er sich nach dem Stoß durch einen anderen bewegt, könnte schließen, daß sich jeder andere Körper, nach ähnlichem Stoß, bewegen wird. Alle Erfahrungsschlüsse sind somit Folgen der Gewohnheit, nicht der Vernunft. [ . . . ] Aller Glaube an Tatsachen oder wirkliche Existenz stammt lediglich von einem dem Gedächtnis oder den Sinnen gegenwärtigen Gegenstand und einer gewohnheitsmäßigen Verbindung zwischen diesem und irgendeinem anderen Gegenstand; oder, mit anderen Worten: Nachdem man gefunden hat, daß in vielen Fällen zwei Arten von Gegenständen – Feuer und Hitze, Schnee und Kälte – immer in Zusammenhang standen, wird der Geist, wenn Feuer oder Schnee sich erneut den Sinnen darbieten, aus Gewohnheit dazu gebracht, Hitze oder Kälte zu erwarten und zu glauben, daß es eine derartige Qualität gibt und sie sich nun bei eingehenderer Beschäftigung entdecken wird. Dieser Glaube ist das notwendige Resultat, wenn man den Geist in eine solche Lage bringt. Es ist ein seelischer Vorgang, der in dieser Lage ebenso unvermeidlich ist wie das Gefühl der Liebe, wenn wir Wohltaten empfangen, oder des Hasses, wenn uns Unrecht widerfährt. Alle diese Vorgänge sind eine Art natürlicher Instinkte, die keine Vernunfttätigkeit, d. h. kein Denk- oder Verstandesprozeß jemals hervorzubringen oder zu verhindern vermag".
Wenn ich zum achten Mal in meinem Leben erlebe, daß auf einen Blitz ein Donner folgt, kann ich dieser gesammelten Erfahrung nicht mehr darüber entnehmen, wie oder warum Blitze Donner bewirken, als beim ersten Mal, hinzugekommen ist aber meine Erwartung, daß auch künftig auf einen Blitz der Donner folgt, daß sich auch hier die Natur als gleichförmig erweist. Auf die Frage, wie ich diese Erwartung rechtfertige, kann ich schlecht darauf verweisen, daß – wie die Erfahrung zeige – in der Natur gleiche (oder ähnliche) Ursachen gleiche (oder ähnliche) Wirkungen haben, denn das stand ja gerade in Frage.
Erkenntnistheoretisch ist das natürlich eine Katastrophe, über die Realität der Außenwelt, über die Existenz anderer denkender Wesen, ja, selbst über die durchgehende und einheitliche Identittt des Ichs läßt sich nichts Sicheres sagen, alles, was wir haben, ist ein "Bündel von Perzeptionen" und die Macht der Gewohnheit.
Interessanter in unserem Zusammenhang sind aber die damit verbundenen Aussagen über die "Mechanik" des Denkens. Humes skeptische Analyse nimmt Abschied vom liebgewordenen und mit Leidenschaft verteidigten Selbstverständnis eines aktiven Geistes, der durch bewußte und gerichtete Tätigkeit "Macht über seine einfachen Ideen entfaltet". Die Perzeptionen, Eindrücke und Ideen, bewegen sich im Geiste nach bestimmten Gesetzen und auf Grund bestimmter Kräfte, ganz ähnlich wie sich die Planeten bewegen, warum das geschieht, ist eine sinnlose Frage.
Descartes und Locke unternahmen den (in der Differenz häufig überschätzten) Versuch, die Autonomie des Menschen gegen über Gott und der (als mechanisch gedachten) Natur zu sichern. Gemeinsam postulierten sie einen eigenen, nur dem Subjekt zugänglichen Bereich des Bewußtseins, des "Geistes"; unterschiedlich sind jeweils die bevorzugten Methoden und die einfachsten und gewissesten "Bausteine" dieses Bereichs: die klaren und deutlichen "eingeborenen Ideen" des Verstandes einerseits und die "einfachen Ideen" der unmittelbaren Sinneswahrnehmung andererseits.
Ihre jeweiligen Nachfolger versuchten, diesen Weg zu Ende zu gehen, und landeten doch wieder bei Gott oder der "Mechanik des Geistes" als letzter Instanz. Den Rationalisten in der Tradition Descartes’ gelang es zwar, als Leistung des Verstandes und weitgehend ohne Rückgriff auf die von ihnen als ungenau angesehene Erfahrung, aus wenigen Axiomen mit deduktiver Strenge ein beeindruckendes Gebäude in der Sprache der Mathematik und Mechanik zu errichten, sie mußten sich aber die reale Existenz des so Beschriebenen mit (z. T. abenteuerlichen) Glaubenssätzen über eingeborene Ideen sowie die Existenz und das Wirken Gottes erkaufen.
Auf der anderen Seite bauten die Empiristen in der Tradition Lockes auf die Erfahrung und den Common sense sowie auf die Analyse der Sprache, blieben dabei aber gefangen im skeptischen Zweifel, in der abgeschlossenen Welt des individuellen Bewußtseins (wobei auch dessen Kontinuität und Einheit mit kaum mehr als der Gewohnheit zu rechtfertigen war).
Für den philosophischen Ehrgeiz war diese Situation äußerst unbefriedigend, und so gab es einige Versuche, sozusagen the best of both worlds zu vereinigen und zugleich die jeweiligen negativen Konsequenzen und Aporien zu vermeiden.