Leibniz: Kalkül des vernünftigen Denkens

"Wenn man Charaktere oder Zeichen finden könnte, die geeignet wären, alle unsere Gedanken ebenso rein und streng auszudrücken, wie die Arithmetik die Zahlen oder die analytische Geometrie die Linien ausdrückt, könnte man offenbar bei allen Gegenständen, soweit sie dem vernünftigen Denken unterworfen sind, das tun, was man in der Arithmetik und der Geometrie tut. Denn alle Forschungen, die vom vernünftigen Denken abhängen, würden durch die Umwandlung dieser Charaktere und eine Art Kalkül zustande kommen, was die Erfindung schöner Dinge ganz leicht machen würde. Denn es würde nicht nötig sein, sich den Kopf ebenso zu zerbrechen, wie man heute gezwungen ist zu tun, und man würde trotzdem sicher sein, alles was hier zu tun sein würde, tun zu können ex datis. Zudem würde man jeden von dem überzeugen, was man gefunden oder erschlossen hätte, da es leicht sein würde, den Kalkül zu prüfen, sei es, indem man ihn nachvollzieht, sei es indem man einige Proben versucht, ähnlich solchen, wie es die Neunerprobe in der Arithmetik ist. Und wenn jemand an dem, was ich vorgebracht haben würde, zweifelte, würde ich zu ihm sagen: "Rechnen wir, mein Herr!", und Feder und Tinte nehmend, würden wir uns bald aus der Verlegenheit ziehen".

Mit diesen Sätzen formulierte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) programmatisch die Vision einer künstlichen, idealen Sprache, in der es "keine Mehrdeutigkeiten und Zweideutigkeiten" gibt, und in der man "alles, was man verständlich sagen wird," angemessen sagen kann; sie würde ein Hilfsmittel sein, "das nicht weniger dazu dienen wird, die Vernunft zu steigern wie das Fernrohr dazu dient, das Sehen zu vervollkommen." Nötig wäre dazu ein System von Grundsymbolen, die den nicht weiter zerlegbaren Bestandteilen der Gedanken eineindeutig zugeordnet sind, und Verknüpfungsregeln für diese Symbole derart, daß die komplexen Zeichenreihen komplexen Gedanken entsprechen (characteristica universalis). Hätte man weiter gewisse Regeln zum Operieren mit diesen Symbolen, einen "Kalkül" (calculus ratiocinator), so daß die Ergebnisse der Operationen den Ergebnissen "vernünftigen Denkens" (z.B. logisches Schließen) entsprechen, so wäre der Traum in Erfüllung gegangen: alle vernünftigen Gedanken ließen sich durch schematisches Operieren mit Symbolen finden (ars inveniendi); und alle Streitfragen wären so zu lösen, wie man im Restaurant die Rechnung prüft (ars iudicandi). 

Leibniz selbst und einige andere lieferten Ansätze zu einer solchen idealen Sprache, zu einem groß angelegten Forschungsprogramm entwickelte sich dieses Projekt aber erst etwa zweihundert Jahre später, weniger als philosophisches Anliegen, sondern im Dienste der Mathematik. 

Das Selbstverständnis der Mathematik als exakte, empirieunabhängige Wissenschaft erlitt durch das Auftreten von Antinomien einen empfindlichen Schlag. Beweisverfahren und Begriffe, die aus einer finiten bzw. sehr anschaulichen Mathematik stammten, versagten bei der Anwendung auf unendlich viele Objekte. 

In dem Bemühen um die Sicherung der Grundlagen der Mathematik wurden als Hilfsmittel logische Kalküle des deduktiven Schließens entwickelt, um die häufig nur intuitiv oder inhaltlich begründeten Beweisverfahren narrensicher und streng überprüfbar zu machen. Als symbolische und formale Logik erlebte dadurch die Logik, von der noch Kant dachte, sie sei durch Aristoteles im wesentlichen abgeschlossen, eine neue Blüte. 

Kalküle sind streng genommen nichts anderes als Herstellungsverfahren von Zeichenreihen aus bestimmten Grundzeichen nach bestimmten Regeln. Zwar kann man den Zeichen eine gewisse Bedeutung geben, somit den Kalkül als formale Sprache interpretieren (und meist werden Kalküle auch in Hinblick auf die intendierte Bedeutung entworfen, und erst dadurch werden sie zu Symbolen), aber die Pointe von Kalkülen ist gerade, daß das Operieren im Kalkül lediglich auf die äußere Gestalt, die Form, und nicht auch auf diese Bedeutung Bezug nimmt, von ihr völlig unabhängig ist. Festgelegt wird nur, welche Zeichen zum Kalkül gehören und auf welche Weise Zeichen zu Zeichenreihen formiert und Zeichenreihen in andere Zeichenreihen transformiert werden dürfen (z. B. durch Löschen, Verschieben, Ersetzen einzelner Zeichen). Daß solche Transformationsregeln (...) in bestimmter Weise interpretiert werden können – etwa als formale Darstellung der Gedankenkette: "Peter ist mit Mary oder mit Jane unterwegs." "Mit Mary ist er nicht zusammen." "Dann ist er mit Jane unterwegs." –, ist zwar erwünscht, ein Wissen um diese Bedeutung der Zeichen ist aber, anders als bei der inhaltlichen Gedankenkette, für die korrekte Anwendung der Regel völlig unnötig. 

Die Kunst besteht nun darin, Kalküle als "symbolische Maschinen" so zu entwerfen, daß im schlichten Vollzug der rein syntaktischen Regeln die intendierte Semantik automatisch mitvollzogen wird (und dann z. B. die gesamte Ableitung ein Beweis für die zuletzt erzeugte Symbolkette ist) nach dem "FORMALISTENMOTTO: Wenn man auf die Syntax achtet, wird die Semantik selbst auf sich achten." 

Vorbild und Anlaß für die Entwicklung der formalen Logik war zwar anfangs die Mathematik, aber die sich dabei zunächst einstellenden großen Erfolge ermutigten eine Reihe von an dieser Entwicklung maßgeblich beteiligten Philosophen dazu, die ursprüngliche Intention des von Leibniz skizzierten Programmes wieder aufzunehmen und die neu entwickelten Methoden auf alle Bereiche des "vernünftigen Denkens" auszudehnen. 

Von der Rekonstruktion der Gedanken und der Repräsentationen der Welt in einer idealen Sprache (statt in der privaten Sphäre des Bewußtseins), für jeden nach strengen Regeln aufs einfachste überprüfbar, versprach man sich einen entscheidenden Fortschritt in der Philosophie bis hin zur endgültigen Klärung einer Reihe ihrer traditionellen Probleme und darüber hinaus, in einer neuen Synthese aus Rationalismus und Empirismus, wesentliche Impulse auch für die Erfahrungswissenschaften.