Einleitung
Die jeweils aktuellen technischen Geräte und Erfindungen haben auch in der Vergangenheit als Bild und Metapher für den Geist und die Denkprozesse gedient: das Hirn arbeite wie eine Mühle, wie einWebstuhl, wie eine Hydraulikanlage, wie eine Telefonzentrale. Heute bestimmt die Computermetapher bis hinein in die Alltagssprache unser Denken über das Denken.
Allerdings ist der Computer mehr als nur ein weiteres Glied in der genannten Kette. So wie vorher die mechanische Uhr ist der Computer Symbol für eine ganze Epoche; war jene – auch in der Gestalt mechanischer Puppen und Tiere – in der Nachfolge der Arbeiten Descartes’ und Newtons im Rahmen des mechanistischen Weltbildes technisch realisiertes Modell für die Deutung und Beherrschung sowohl der unbelebten wie belebten Natur, für alles Materielle, so ist der Computer heute im "Informationszeitalter" Modell für den damals ausgeklammerten Bereich des Geistes, für die Objektivierung (oder vielleicht besser Intersubjektivierung) des Subjektiven.
Ging es damals, im zweiwertigen Weltbild von Subjekt und Objekt, von Geist und Materie, um die Abgrenzung des Menschen von der Natur, um die Besonderheit des menschlichen Lebens (mit dem Ergebnis, in Bezug auf den Körper die Sonderstellung des Menschen aufzugeben und nur ihm eine Seele zuzusprechen), so geht es heute, nach der Entdeckung, daß sich Information weder restlos als Geist noch als Materie erklären läßt, um die Frage, ob dem Geist des Menschen eine exklusive Sonderstellung zukommt (wobei sich aus biologischer Sicht das Hirn des Menschen als nur graduell verschieden von denen höherer Säuger erwiesen hat).
Aus der Sicht einiger "Häretiker" sind Menschen und Computer nur unterschiedliche Arten der umfassenderen Gemeinschaft "informationsverarbeitender Systeme", ähnlich wie wir vorher lernen mußten, daß Tintenfische, Schweine und Menschen nur unterschiedliche Arten lebender Wesen sind, zwischen denen auf der physiologischen Ebene kein wesentlicher Unterschied besteht. Nach dieser Auffassung ist der Mensch nicht "das vernünftige unter den Tieren,"sondern"das Tier unter den Vernunftwesen, d. h. dasjenige Wesen, dessen mentale Zustände kontingenterweise in biologischer ,wetware‘ realisiert sind."
Im Spannungsfeld dieser neuen Fragestellung sind mit dem Computer ähnliche Hoffnungen und Ängste verbunden wie damals mit den feinmechanischen Puppen; so gesehen ist der Computer aber auch Metapher und Modell für den Glauben an die Berechenbarkeit und Beherrschung der Welt durch Informationsverarbeitung, analog dem früheren und nun schwindenden Glauben an die Mechanik.
Das Computermodell des Geistes
Für die am Paradigma der Informationsverarbeitung orientierten Kognitionsforscher ist der Computer noch mehr als das, nämlich Modell des menschlichen Geistes. Der Computer und seine Programmierung haben erstens eine heuristische Funktion für Theorien über Kognition, die erfolgreiche Technik kann Anhaltspunkte dafür liefern, wie Menschen vergleichbare Probleme lösen. Umgekehrt lassen sich die durch diese Analogie gewonnenen Theorien in Computerprogramme umsetzen, und in einer ganz eigenen Mischung aus gedanklichem und empirischem Experiment ergibt sich dadurch die Möglichkeit, die Kohärenz und Adäquatheit dieser Theorien zu testen, indem man prüft, ob die Programme die gleichen Leistungen (und die gleichen Fehler) zeigen wie wir Menschen. Zweitens kann man dann weiter die These vertreten, daß Computer nicht nur nützliche Werkzeuge zur Erforschung des Denkens, sondern auch Modelle für den menschlichen Geist seien, weil das Denken tatsächlich so ablaufe wie Computerprogramme, nur auf der physikalischen Ebene anders realisiert.
Zentral für diese These ist der Begriff der Symbolverarbeitung. "Symbole" sind "physikalische Muster (wie zum Beispiel Kreidemarkierungen auf einer Tafel), die als Komponenten von Symbolstrukturen (bisweilen ’Ausdrücke‘ genannt) auftreten können." Ein "Symbolsystem" verfügt "über eine Anzahl einfacher Prozesse, die über Symbolstrukturen operieren – Prozesse, die Symbole erzeugen, verändern, kopieren und zerstören." Ein "physikalisches Symbolsystem" ist dann "eine Maschine, die in ihrer Bewegung durch die Zeit eine evolvierende Kollektion von Symbolstrukturen erzeugt." Die Systeme sind "physikalisch" in dem Sinne, "daß es sich um Dinge aus der realen Welt handelt, hergestellt aus Glas und Metall (Computer) oder aus Fleisch und Blut (Gehirne). In der Vergangenheit waren wir mehr daran gewöhnt, uns die Symbolstrukturen der Mathematik und der Logik als abstrakt und körperlos vorzustellen – wenn man von Papier, Bleistift und Verstand absieht, die notwendig waren, um sie ins Leben zu rufen. Die Computer haben die Symbolsysteme aus dem platonischen Reich der Ideen in die empirische Welt aktualer Prozesse verlagert, die in Maschinen oder Gehirnen oder in einer Verbindung beider ablaufen."
Zusammengefaßt ergibt sich daraus – als vorherrschendes Paradigma der kognitiven KI – die Hypothese der physikalischen Symbolsysteme: Der kognitiv orientierte Teil der KI-Forscher (und das waren am Anfang alle) will Maschinen mit echter, nicht bloß simulierter Intelligenz bauen, sie beantworten die Frage "Können Computer denken?" mit einem überzeugten "Ja!", weil nach ihrer Überzeugung auch wir eine Art Computer sind. Ich habe bisher kaum eine Frage erlebt, bei der sich wie bei dieser zwei Fraktionen unversöhnlich gegenüberstehen, die die jeweilige Antwort für völlig evident und kaum des Nachdenkens wert halten, mit großem Nachdruck und viel Eifer den Standpunkt vertreten, daß nur absolut verbohrte Menschen das nicht einsehen könnten, und die – wie bei einer "Gestalt-Switch" Figur – buchstäblich nicht sehen können, wie die Sichtweise der anderen zustande kommt.
(...) Es drängt sich der Eindruck auf, "daß es in dieser Debatte weniger um eine Abwägung der Argumente geht als um eine Art ,Kulturkampf‘, wobei die Alternative von den Befürwortern der Analogisierung gerne als die Auseinandersetzung zwischen Hinterwäldlern und Aufgeklärten geführt wird. Die Gegner der Analogisierung sehen demgegenüber die Analogisierungsdebatte als eine Auseinandersetzung zwischen Humanismus und pathologischer Fortschrittsgläubigkeit." Diejenigen, die (ggf. aus guten Gründen) an die Sonderstellung menschlichen Denkens glauben, können gegenüber Vertretern des "Computermodells des Geistes" drei Haltungen einnehmen:
Sie können sich zurücklehnen, ein wenig gelangweilt an die Decke schauen und bei sich denken ". . . ja, ja, kennen wir schon, erst waren es die Mühlen, dann die automatischen Webstühle und nun die Computer. Was wird die nächste Mode sein?"
Sie können sich vorbeugen und sofort mit einer beeindruckenden Reihe Apriori- Argumente beweisen, daß Computer niemals werden denken können bzw. daß sie niemals zu diesem oder jenem fähig sein werden (unter der Gefahr, sich damit ähnlich lächerlich zu machen wie die eifrigen Proponenten der KI mit ihren positiven Prognosen; ersatzweise kann dann der Hinweis erfolgen, daß es nur so aussehe, als ob der Computer es könne, nicht aber wirklich so sei).
Sie können aufstehen, ein wenig in Bibliotheken stöbern, sich einige Programme und Computer ansehen, auf einem gemeinsamen Spaziergang sich die Gründe für den anderen Standpunkt erklären lassen, Kritik anmelden und dann in einen Dialog eintreten, der offen ist für eine Veränderung der Sichtweisen auf beiden Seiten.
Ich plädiere für die letztere Haltung, allerdings ist eine – neben der Bewertung erzielter Resultate – dafür nötige Diskussion der Grundannahmen und leitenden Vorstellungen der kognitiven KI schwieriger, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Das liegt erstens daran, daß sie nur selten explizit angegeben werden und daß man zweitens nicht ohne weiteres von einem gemeinsamen "Bildungsgut" der meist anglo-amerikanischen Proponenten und kontinental-europäischen Opponenten ausgehen kann. Drittens erweist sich beim näheren Hinsehen, daß das scheinbar monolithische Lager der kognitiven KI durchaus zerstritten ist und sich auch auf recht unterschiedliche Traditionen stützt. Viertens sind dabei die Bezüge so vielfältig und auf so viele Disziplinen verteilt, daß eine Zusammenschau nur schwer möglich ist. Das "Computermodell des Geistes" hat in diesen Disziplinen nicht nur seine Wurzeln, sein Erfolg beruht u. a. auch darauf, hier Verbindungen geschaffen und seinerseits wichtige Impulse für diese Fachwissenschaften gegeben zu haben.
Bei der Diskussion der Frage, ob Computer denken können, ist es deshalb sicher nützlich, sowohl dem Begriff des Denkens als auch – in Umkehrung einer Frage von Marvin Minsky zu "Why do many people think computers can?" – den Wurzeln der KI in der Philosophie nachzugehen, also einerseits die Beiträge aus der philosophischen Tradition, auf die sich die Proponenten der KI berufen können, ebenso sorgfältig zu prüfen wie andererseits den Beitrag der KI zur Weiterentwicklung der Philosophie des Geistes. (...)