Hobbes: Denken ist Rechnen

Mit einigem Recht kann man Thomas Hobbes (1588–1679) als philosophischen "Großvater der KI" bezeichnen. Angeregt durch den von ihm sehr bewunderten Galilei versuchte er, dessen Prinzipien der Naturerklärung (atomistische Mechanik und Mathematik, d. h. insbesondere die "resolutiv-kompositive", also auseinandernehmend-zusammensetzende Geometrie Euklids als Methode für Darstellung und Beweis) auch auf den Bereich des Geistes und der Gesellschaft zu übertragen. Berühmt wurde er für seine Staatsphilosophie, in unserem Zusammenhang ist aber interessanter, was er über das Denken sagte. 

Zunächst erklärt er, wie unsere Empfindungen entstehen: 

"Ursache der Empfindung ist der äußere Körper oder Objekt, der auf das jeder Empfindung entsprechende Organ drückt, entweder unmittelbar wie beim Schmecken und Fühlen, oder mittelbar wie beim Sehen, Hören und Riechen. Dieser Druck setzt sich durch die Vermittlung der Nerven und anderer Stränge und Membranen des Körpers nach innen bis zu dem Gehirn und Herzen fort und verursacht dort einen Widerstand oder Gegendruck oder ein Bestreben des Herzens, sich davon freizumachen." 

Unsere Empfindungen sind also durch Objekte der Außenwelt verursachte innere Bewegungsmuster der Materie, die allerdings nur mittelbar den Objekten entsprechen. Wie schon Galilei (und vor ihm die griechischen Atomisten) unterscheidet er die primären Qualitäten der Objekte (Ausdehnung, Gestalt, Anzahl, Bewegung) von den sekundären (Farbe, Ton, Geruch, Hitze, Kälte, Härte usw.) unserer Sinnlichkeit (ein Pullover ist also nicht rot, seine materielle Beschaffenheit verursacht durch Medien vermittelte Empfindungen, die wir "rot" nennen), das Objekt und unsere Vorstellung davon sind also zwei verschiedene Dinge. Vorstellungen, Erinnerungen und Erfahrungen sind für Hobbes die verebbenden oder überlagerten Nachwirkungen einzelner oder immer wieder aufgetretener Empfindungen (so wie die Wellen am Elbufer, nachdem ein Schiff vorbeifuhr). Soweit unterscheidet sich der Mensch nicht vom Tier, der wesentliche Unterschied liegt erst in der Fähigkeit zur Sprache, im Gebrauch von Namen oder Benennungen und ihrer Verknüpfung. 

Solche sprachlichen Zeichen, die Worte, haben dabei zwei Funktionen: erstens dienen sie als Merkzeichen der Erinnerung, zweitens als Mitteilungszeichen für den Austausch von Vorstellungen und Gedanken zwischen den Menschen, Sprache ist also eine Übertragung der Folge von Gedanken in eine Folge von Wörtern. Wahrheit besteht dann

"in der richtigen Anordnung der Namen bei unseren Behauptungen", "wahr und falsch sind Attribute der Sprache, nicht von Dingen". 

In einem etymologischen Analogieschluß bereitet er dann seine Definition von Denken vor:

"Die Römer nannten Geldrechnungen rationes [ . . . ], und was wir in Rechnungen oder in der Buchführung als Posten bezeichnen, nannten sie nomina, das heißt Namen. Und von da her scheinen sie die Bedeutung des Wortes ratio auf die F¨ahigkeit des Rechnens in allen anderen Gebieten ausgedehnt zu haben. Die Griechen besitzen für Sprache und Vernunft nur das Wort . Nicht, daß sie gedacht hätten, es gebe keine Sprache ohne Vernunft, sondern umgekehrt kein Denken ohne Sprache. Und den Denkakt nannten sie Syllogismus, was Zusammenzählen der Folgerungen aus einer Aussage mit der einer anderen bedeutet. [ . . . ] Denken heißt nichts anderes als sich eine Gesamtsumme durch Addition von Teilen oder einen Rest durch Subtraktion einer Summe von einer anderen vorstellen. Geschieht dies durch Wörter, so ist es ein Vorstellen dessen, was sich aus den Namen aller Teile für den Namen des Ganzen, oder aus den Namen des Ganzen und eines Teiles für den Namen des anderen Teiles ergibt. [ . . . ] Kurz: Wo Addition und Subtraktion am Platze sind, da ist auch Vernunft am Platze, und wo sie nicht am Platze sind, hat Vernunft überhaupt nichts zu suchen. [ . . . ] Denn Vernunft in diesem Sinne ist nichts anderes als Rechnen, das heißt Addieren und Subtrahieren, mit den Folgen aus den allgemeinen Namen, auf die man sich zum Kennzeichnen und Anzeigen unserer Gedanken geeinigt hat".

In diesen fast dreieinhalb Jahrhunderte alten Zeilen, in diesem Verständnis von Rationalität als im Wortsinne Berechnung, lassen sich schon viele zentrale Annahmen der heutigen Kognitionswissenschaft und speziell der KI-Forschung finden: Denken als regelgeleiteteManipulation von Symbolen, die einerseits "Objekte" der Außenwelt repräsentieren, andererseits physikalisch im Gehirn realisiert sind und sich funktional äquivalent so in ein anderes Symbolsystem – die Sprache – übertragen lassen, daß die schlußfolgernden und anderen Operationen innerhalb der Sprache das gleiche Ergebnis wie im Gehirn (und eine Entsprechung in der "Wirklichkeit") haben.

 Allerdings konnte sich Hobbes’ Sicht des Denkens zu seiner Zeit nicht durchsetzen, die strikt materialistische und deterministische Deutung der Wahrnehmungs- und Denkvorgänge, das damit verbundene Leugnen der Willensfreiheit, die Vorstellung, auch nur eine (wenn auch kompliziertere) mechanische Maschine zu sein, paßte nicht zur Aufbruchstimmung des autonomen Subjekts der Neuzeit; so – als passive Unterworfenheit – war Francis Bacons berühmtes, programmatisches Motto der Wissenschaft der Neuzeit 

"Man beherrscht die Natur nur, indem man sich ihren Gesetzen unterwirft" 

nicht gemeint, so war schwerlich 

"die Macht und Herrschaft des menschlichen Geschlechts über die Gesammtnatur zu begründen", 

das ging nur, wenn man sich selbst davon ausnahm (zudem mußte er eine detaillierte Erklärung des Entstehens bedeutungsvoller, komplexer Symbole und ihrer "Berechnung" aus der Mechanik des Gehirns schuldig bleiben – was angesichts vergleichbarer Probleme der heutigen Hirnforschung kein Vorwurf sein soll).