Ryle: Gegen das "Gespenst in der Maschine"

Die Bewußtseinsphilosophie, mit ihrer radikalen Trennung von Geist und Materie, hat neben der (theoretischen) Lösung ihrer selbst gestellten Probleme (wie läßt sich ein sicheres Fundament dafür schaffen, die Natur so zu erforschen und zu berechnen, daß sie für die Menschen beherrschbar wird? und: wie läßt sich Moral so begründen, daß Menschen Verantwortung nur gegenüber sich selbst und Ihresgleichen haben?) auch neue Fragen und Rätsel hinterlassen. Dazu gehören: 

Neben vielen Versuchen, die genannten Probleme innerhalb des mentalistischen Paradigmas zu lösen, tauchte nach einiger Zeit der Gedanke auf, daß der Grund für die Schwierigkeiten in den Grundannahmen des Paradigmas selbst liegt. 

Folgenreich und viel diskutiert war der Frontalangriff von Gilbert Ryle (1900–1976). Gemäß seiner These entstand das Leib-Seele-Problem dadurch, "daß in den drei Jahrhunderten seit dem Beginn des naturwissenschaftlichen Zeitalters die logischen Kategorien zur Einordnung der Begriffe der geistigen Vermögen und Tätigkeiten falsch ausgewählt wurden." Descartes’ radikalen Dualismus, die Annahme, "daß es zwei verschiedene Arten von Existenz oder Sein gibt", verspottet er als "Dogma vom Gespenst in der Maschine"; diese Lehre, so Ryle, 

"besteht aus einem einzigen großen Irrtum, einem Irrtum von ganz besonderer Art, nämlich einer Kategorienverwechslung", 

und er illustriert das an einem berühmt gewordenen Beispiel:

"Ein Ausländer kommt zum erstenmal nach Oxford oder Cambridge, und man zeigt ihm eine Reihe von Colleges, Bibliotheken, Sportplätzen, Museen, Laboratorien und Verwaltungsgebäuden. Nach einiger Zeit fragt er: ,Aber wo ist denn die Universität?‘ [ . . . ] 

Der Irrtum des Ausländers lag in seiner unschuldigen Annahme, es sei richtig, [ . . . ] von ,der Universität‘ so zu sprechen, als bezeichneten die Worte ,die Universität‘ ein weiteres Mitglied der Klasse, zu der jene anderen obenerwähnten Einheiten auch gehören. Er reihte die Universität irrtümlich in dieselbe Kategorie ein, zu der diese anderen Institutionen gehören. [ . . . ] 

Die Unterschiede zwischen dem Körperlichen und Geistigen wurden so als Unterschiede innerhalb des gemeinsamen Rahmens der Kategorien ,Ding‘, ,Material‘, ,Eigenschaft‘, ,Zustand‘, ,Vorgang‘, ,Veränderung‘ ,Ursache‘ und ,Wirkung‘ dargestellt. Geister sind Dinge, aber Dinge von anderer Art als Körper; geistige Vorgänge sind Ursachen und Wirkungen, aber Ursachen und Wirkungen anderer Art als Körperbewegungen. Und so weiter. So wie der Ausländer erwartete, die Universität werde ein zusätzliches Gebäude sein, ähnlich wie ein College, aber auch recht anders, so haben die Antimechanisten Geister als zusätzliche Zentren von Kausalvorgängen dargestellt, ähnlich wie Maschinen aber auch recht anders. Ihre Theorie war eine paramechanische Hypothese".

Einher mit diesem Dogma geht nach Ryle eine systematische Fehleinschätzung der Rollen von Können (knowing how) und Wissen (knowing that). Wir 

"neigen dazu, alle anderen Begriffe für geistiges und seelisches Verhalten mit Hilfe von Begriffen der Erkenntnis zu definieren. [ . . . ] Die griechische Idee, Unsterblichkeit sei dem theoretisierenden Teil der Seele vorbehalten, (führte zu der) Idee, das Vermögen der Wahrheitserkenntnis sei die wesentliche Eigenschaft des Geistes. Andere menschliche Fähigkeiten konnten nur dann als geistig angesehen werden, wenn sich zeigen ließ, daß sie irgendwie durch das verstandesmäßige Begreifen von wahren Sätzen gelenkt seien". 

Intelligentes und geistig aufmerksames Tun "ist nach dieser Legende immer das Tun von zwei Dingen, nämlich erstens gewisse passende Sätze oder Vorschriften erwägen und zweitens das in die Praxis umsetzen, was diese Sätze oder Vorschriften anbefehlen." Ryle dagegen ist angetreten, 

"die intellektualistische Doktrin richtigzustellen, die Intelligenz mit Hilfe von Wahrheitserkenntnis zu definieren sucht, statt Wahrheitserkenntnis mit Hilfe von Intelligenz. (Er will zeigen), daß die intellektualistische Legende falsch ist, und daß die Beschreibung einer Handlung als intelligent nicht den doppelten Vorgang von Erwägen und Ausführen bedingt, (eine solche) Handlung hat eine besondere Art oder Ausführung, nicht besondere Vorgänger. (Er will somit zeigen), daß wir, wenn wir von Leuten sagen, sie betätigen ihre geistigen Fähigkeiten, uns nicht auf okkulte Vorfälle beziehen, deren Auswirkungen sich im Benehmen und in Äußerungen zeigen; wir beziehen uns vielmehr auf das Benehmen und die Äußerungen selbst". 

Aus dieser Sicht ist Wissen (wie auch andere geistige Fähigkeiten) nur eine Disposition, eine (erworbene) Fertigkeit, unter bestimmten Umständen, beim Auftreten bestimmter Ereignisse, in bestimmter Weise sich zu verhalten und zu handeln. So gesehen hat die "traditionelle Theorie des Geistes [ . . . ] die Typenunterscheidung zwischen Disposition und Betätigung in einen mythischen Zwiespalt zwischen unbeobachtbaren geistigen Ursachen und beobachtbaren physischen Wirkungen mißdeutet." 

Dagegen setzt Ryle sein Vorhaben, mittels einer Analyse der Logik der (Umgangs-) Sprache im Bereich des Geistigen – u. a. durch die sorgfältige Unterscheidung der Typen der "Dispositionswörter" (in der Art von "zerbrechlich" oder "in Wasser löslich") und der "Episodenwörter" – Sätze über psychische Zustände und Ereignisse als "dispositionale Aussagen", d. h. als Sätze über öffentlich zugängliche, intersubjektiv überprüfbare Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten zu rekonstruieren. 

Dadurch erhalten wir nach Ryle die Möglichkeit, von einer Person nur noch einen Lebenslauf zu schreiben, statt des Rekurses auf "eine zweite Gruppe von Schattenoperationen" "in irgend jemandes Bewußtseinsstrom", Erklärungen im Bereich des Geistigen sind dann zwar anders, aber nicht geheimnisvoller als (und vom ähnlichen Muster wie) "Das Glas zerbrach, als es von einem Stein getroffen wurde, weil es zerbrechlich war". Danach folgen mehrere Hundert Seiten der Durchführung des Vorhabens, durch Einordnung in die richtigen Kategorien die paramechanische Theorie des Geistes und insbesondere das traditionelle Dogma, "der Geist oder die Seele arbeitet in drei unreduzierbar verschiedenen Modi, im Modus des Erkennens, im Modus des Affekts und im Modus des Strebens", kurz die "Dreifaltigkeitstheorie des Geistes" als ein "theoretisches Kuriosum" zu entlarven; angefangen vom "Willensakt" (ein "künstlicher Begriff ", der zudem noch wie Phlogiston" und Lichtaether" jede Nützlichkeit verloren hat) bis zum Verstand". Nach Ryle brauchen wir zur Erklärung des Erkennens von Gegenständen keine "Geschichten über äußerst schnelle und unbemerkte Schlüsse, oder daß Begriffe heraufgeholt und visuellen Daten über den Kopf gestülpt werden", es werden einfach – durch erlernte "Wahrnehmungsrezepte" – erworbene "Erwartungsdispositionen" befriedigt (¨ahnlich, wie "wissen, wie eine Melodie geht" heißt "eine Gruppe von auditiven Erwartungsdispositionen erworben haben", und "eine Melodie wiedererkennen" heißt "einen erwarteten Ton nach dem anderen hören"; nicht viel anders ist das beim Erkennen von Fingerhüten und Kühen, nur wird das dadurch verschleiert, daß hier alles viel schneller geht als beim Hören des "Donauwalzer"). Für Ryle sind wir damit viele Probleme der klassische Erkenntnistheorie losgeworden: "Die Beschreibung, wie Kinder Wahrnehmungsrezepte lernen, bringt kein größeres erkenntnistheoretisches Rätsel mit sich als die Beschreibung, wie Jungen radfahren lernen. Sie lernen durch die Praxis, und wir können die Arten von Übungen angeben, die den Lernvorgang fördern." Entsprechend heißt für Ryle der Besitz einer abstrakten Idee (z. B. "Höhenlinie") nichts anderes, als daß jemand bestimmte "Aufgaben und noch eine unbestimmte Reihe anderer verwandter Aufgaben bewältigen kann, regelmäßig bewältigt oder in diesem Augenblick bewältigt." Eine Theorie haben heißt nicht, innerlich etwas tun, sondern "bereit sein, sie mitzuteilen oder anzuwenden, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt", ein Urteil macht jemand, wenn er nach erlernten Regeln und Standards "ein Stück Theorie, das er schon besitzt, in Aussageform bringt," ein Schluß wird gezogen, "wenn jemand zum öffentlichen oder privaten Gebrauch sagt oder schreibt, ,Das, ergo jenes‘ [ . . . ], vorausgesetzt, er sagt oder schreibt es im Wissen, er sei dazu berechtigt." Ein wichtiger Grund dafür, warum Erkenntnistheoretiker bei der Analyse von "Idee", "Urteil", "Schließen" usw. immer nach geheimnisvollen T¨atigkeiten im inneren Raum des Geistes suchten statt nach Dispositionen und öffentlichen Handlungen, liegt für Ryle in der ungenügenden Unterscheidung zwischen "Aufgabenzeitwörtern" (rennen, reisen . . . ) und "Erfolgszeitwörtern" (siegen, ankommen . . . ). Er setzt dagegen, "daß die Wörter ,Urteil‘, ,Deduktion‘, ,Abstraktion‘ und so weiter rechtmäßig zur Klassifikation der Denkergebnisse gehören und daß sie mißdeutet werden, wenn sie als die Bezeichnung jener Handlungen verwendet werden, aus denen das Nachdenken besteht. [ . . . ] Sie sind Ausdrücke für Schiedsrichter, nicht für Biographen." Er hofft gezeigt zu haben, "daß diese von Erkenntnistheoretikern postulierten, für sich bestehenden intellektuellen Prozesse paramechanische Dramatisierungen der klassifizierten Elemente schon aufgestellter und auseinandergesetzter Theorien sind." Zusammengefaßt ist für Ryle die gesamte Bewußtseinsphilosophie und Erkenntnistheorie ein historisch bedingter Irrweg: der "Geist" ist für ihn nur der Sammelname für ein Bündel von Dispositionen und Fertigkeiten, über die man in bestimmter Weise reden sollte, nicht eine oder gar die grundlegende Fähigkeit des Menschen selbst; als Nachfolger für die Erkenntnistheorie schlägt er erstens eine Theorie der Wissenschaften als systematisches Studium des Gefüges schon gebauter Theorien, zweitens eine Theorie des Lernens, der Entdeckung und der Erfindung vor. Bei allen berechtigten Einwänden besteht die Stärke des Ansatzes von Ryle darin, den ganzen Menschen (und nicht bloß seinen Geist) in den Mittelpunkt zu stellen, mit seiner biologischen, kulturellen und individuellen Geschichtlichkeit, in seinerWechselwirkung mit der Außenwelt im Rahmen einer Gemeinschaft mit anderen Menschen, ohne andererseits einem szientistischen Reduktionismus das Wort zu reden. Für die kognitive KI – insbesondere für den Teil, der sich als empirische Variante des eben unter "zweitens" genannten Nachfolgers der Erkenntnistheorie versteht und deshalb auch mehr auf das Lernen als auf das Programmieren einer fertigen Intelligenz setzt – hat Ryles Konzept eine Bedeutung dadurch, daß der Blick weg vom nur privat zugänglichen und geheimnisvollen Bewußtsein hin zu den Denkleistungen und den sie ermöglichenden Dispositionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, gelenkt wird. Die letzten Absätze – Philosophie als logische Analyse der Umgangssprache – waren chronologisch ein Vorgri (und auch eine kleine Abweichung) auf dem Weg zur kognitiven KI. Nach Kant verzweigten sich die Motive und Wege des vorher einheitlichen Projekts einer die Wissenschaften fundierenden Erkenntnistheorie (andere – wie Dewey, Heidegger und der späte Wittgenstein – verwarfen das Projekt ganz). Der von Descartes und Leibniz aufgeworfene methodologisch-normative Aspekt einer an der Strenge und Gewißheit der Mathematik orientierten Naturwissenschaft führte im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer neuen Blüte der Logik . Etwa gleichzeitig etablierte sich im Anschluß an die Assoziationstheorien von Locke und Hume eine empirische Psychologie. In der Philosophie mochte man sich mit der Unerkennbarkeit des "Dings an sich" nicht abfinden. Ein Ausweg wurde – ausgehend vom sich selbst, Gott und die Welt denkenden Bewußtsein – in einer "Phänomenologie des Geistes", in den Höhenflügen und Abgründen des deutschen Idealismus gesucht (die zumindest die Dimension der Geschichtlichkeit des Geistes ins Bewußtsein hob). Als Reflex auf den vermeintlich oder tatsächlich zunehmenden Verlust des Realitäts- und Praxisbezuges dieser Philosophie suchte ein anderer Ansatz – vorzugsweise auf der anderen Seite des Kanals und des Atlantiks wirksam, also dort, wo man an den Schulen mehr und mit größerer Sympathie als hier Locke und Hume liest, und dort, wo das Projekt der KI entstand – die Lösung darin, die Wahrheit von Urteilen nicht mehr in der mehr oder weniger gesicherten Widerspiegelung oder Konstitution der Außenwelt in Bewußtseinsakten, sondern in einem intersubjektiv überprüfbaren, direkten Vergleich der Außenwelt mit den von "subjektiven" Ungenauigkeiten gereinigten idealsprachlichen Rekonstruktionen dieser Urteile zu gründen.