Russell: Logischer Atomismus

Freges Interesse als Philosoph der Logik und Mathematik galt wie gesagt dem Analytischen und Apriorischen (und einer Ablehnung der synthetischen Urteile a priori Kants für den Bereich der Mathematik). 

Dieses Interesse teilte auch Bertrand Russell (1872– 1970). Sein zusammen mit Alfred North Whitehead verfaßtes monumentales Werk "Principia Mathematica" unternahm wie Freges "Grundgesetze der Arithmetik" den Versuch, die Mathematik vollständig auf die Logik zurückzuführen und dabei die von ihm bei Frege entdeckte Möglichkeit von Antinomien durch eine Hierarchie logischer Typen zu vermeiden (auch wenn dieser Versuch nicht gelang bzw. nicht akzeptiert wurde, hatte dieses Werk anders als das von Frege großen Einfluß auf die Entwicklung der formalen Logik und ihrer Notation), darüber hinaus wollte er aber die dabei entwickelten Mittel und Methoden auch für den Bereich der Erkenntnistheorie fruchtbar machen.

Russell, der als Student unter dem Dogmatismus des britischen Neo-Hegelianismus litt, hatte eine herzliche Abneigung gegen die Lehre, daß nur das Ganze wahr sei und daß das Denken die Welt erzeugt, gegen Kants Lehre von Raum und Zeit als notwendige Anschauungsformen und der synthetischen Erkenntnis a priori, gegen alles in seinen Augen unnötig Metaphysische (und auch gegen die "merkwürdige" und "schattenhafte" Existenz von Freges "Drittem Reich"). 

Er wollte zurück zu einer Philosophie, die schlicht die Vorstellung erlaubte, daß das Gras grün ist und daß die Sterne auch da sind, wenn niemand hinschaut; er wollte wieder anknüpfen an den britischen Empirismus mit seinen vertrauenerweckenden, der Sinneswahrnehmung unmittelbar zugänglichen einfachen Tatsachen. 

Allerdings unterschied er sich in einem wesentlich von Locke und Hume, nämlich in der Frage, "ob Urteile aus sogenannten Ideen bestehen", er vertrat den Standpunkt,

"daß diese Theorie grundsätzlich verkehrt ist. Sie scheint zu besagen, daß es eine geistige Entität gibt, die als Idee von etwas bezeichnet werden kann, das außerhalb des Geistes der Person existiert, die diese Idee hat, und daß, da ein Urteil ein geistiger Vorgang ist, dessen Bestandteile Bestandteile des Geistes der urteilenden Person sein müssen. Dadurch werden die Ideen zu einem Vorhang zwischen uns und den Dingen außer uns – wir erreichen in Wirklichkeit in der Erkenntnis nie die Dinge, die wir angeblich erkennen, sondern nur die Ideen dieser Dinge. 

Die Relation zwischen Geist, Idee und Objekt nach dieser Theorie ist ganz und gar unverständlich, und kein Untersuchungsergebnis bestätigt, soweit ich sehen kann, das Eindringen der Idee zwischen Geist und Objekt. Ich habe den Verdacht, daß diese Auffassung durch eine Abneigung gegen Relationen und die Meinung genährt wird, der Geist könne keine Objekte erkennen, wenn es nicht etwas in ihm gibt, das als Zustand des Erkennens des Objekts bezeichnet werden könnte. 

Eine solche Ansicht führt jedoch ins Uferlose, da die Relation zwischen Idee und Objekt mit Hilfe der Annahme erklärt werden muß, daß die Idee selbst eine Idee des Objekts besitzt etc. ad infinitum. [ . . . ] 

Ein Urteil besteht nach unseren Feststellungen nicht aus geistigen Bestandteilen, die Ideen genannt werden, sondern ist ein Vorkommnis, dessen Bestandteile ein Geist und bestimmte Objekte sind, nämlich Individuen und Universalien".

Relationen sind Gegenstände der Logik, und so machte sich Russell an die Aufgabe, mittels logischer (und nicht grammatischer) Analyse die Idee der Idee als überflüssig zu erweisen und andere Rätsel des Denkens und der Erkenntnis zu lösen. Dabei läßt er sich von der " Überzeugung des gesunden Menschenverstandes" leiten, "daß es viele einzelne Dinge gibt und daß die augenscheinliche Mannigfaltigkeit in der Welt nicht nur aus scheinbaren Bestandteilen einer einzigen unteilbaren Realität besteht."

Für ihn gibt es 

"unendlich viele Arten von Elementen. Es gibt Individuen, Qualitäten und Relationen verschiedener Ordnung. [ . . . ] Die einzige andere Art von Objekten, die uns in der Welt begegnen, sind die Dinge, die wir Tatsachen nennen. Die Tatsachen aber sind die Dinge, die mit Hilfe von Aussagen behauptet oder verneint werden". 

Tatsachen sind also 

"diejenigen Dinge, die eine Aussage entweder wahr oder falsch machen". 

Den so durch logische Analyse ergänzten Empirismus nennt er 

"logischen Atomismus, weil die Atome, zu denen ich als den letzten unzerlegbaren Bestandteilen bei der Analyse kommen möchte, nicht physikalische, sondern logische Atome sind. Von diesen Atomen sind die einen die Dinge, die ich Individuen nenne – kleine Farbflecke, Töne, kurzlebige Dinge – die anderen die Prädikate, Relationen etc". 

Dieser 

"moderne analytische, von mir skizzierte Empirismus unterscheidet sich von dem Empirismus Lockes, Berkeleys und Humes dadurch, daß er die Mathematik einbezieht und eine brauchbare logische Technik entwickelt. Das ermöglicht es ihm, bei gewissen Problemen zu endgültigen Lösungen zu kommen, die mehr wissenschaftlichen als philosophischen Charakter tragen. [ . . . ] Für mich steht es außer Frage, daß nur durch Methoden dieser Art philosophische Erkenntnisse – soweit überhaupt möglich – erlangt werden können; und ebensowenig zweifle ich daran, daß durch diese Methoden viele alte Probleme vollständig lösbar werden." 

Eine solche "wissenschaftliche" Philosophie (über die "Welt" als Menge aller Tatsachen) ist nach Russells Überzeugung möglich durch die Konstruktion einer logisch perfekten Sprache. 

"In einer solchen Sprache würden die Wörter einer Aussage mit Ausnahme von solchen wie ,oder‘, ,nicht‘, ,wenn‘ und ,dann‘, die eine andere Funktion erfüllen, je einem Bestandteil der betreffenden Tatsache korrespondieren. In einer logisch perfekten Sprache gäbe es für jedes einfache Objekt nur ein einziges Wort. Was nicht einfach ist, würde durch Kombinationen aus Wörtern für einfache Dinge ausgedrückt, so daß jedem Wort der Kombination ein Bestandteil des betreffenden Komplexes korrespondiert. Eine solche Sprache wäre vollkommen analytisch und würde auf den ersten Blick zeigen, welche logische Struktur die behauptete oder negierte Tatsache besitzt. Die in den "Principia Mathematica" entwickelte Sprache will eine solche Sprache sein". 

Eine solche Analyse und Darstellung hätte zum Ergebnis, 

"daß in einer logisch korrekten Symbolik eine fundamentale Übereinstimmung zwischen der Struktur einer Tatsache und ihres Symbols herrscht und daß die Komplexität eines Symbols mit der der symbolisierten Tatsache sehr genau übereinstimmt". 

Wenn dann die atomaren Aussagen nur aus Bestandteilen bestehen, mit deren Bedeutung wir "bekannt" sind, und die Wahrheit komplexer Aussagen nur von der Wahrheit der atomaren Teilaussagen abhängt, ist das Ziel erreicht: unsere gesamte Erkenntnis ist dann entweder empirisch oder folgt logisch aus empirischen Erkenntnissen. Und: statt der obskuren mentalen Repräsentation haben wir eine öffentlich zugängliche Repräsentation der Welt in einer idealen Sprache.