Wittgenstein: Sätze als logisches Bild der Tatsachen
In das Zentrum philosophischer Untersuchungen rückt die Sprache bei Ludwig Wittgenstein (1889–1951). In seiner frühen Schrift faßt er seine These über das Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit so zusammen:
"Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken".
Diese These erscheint auf den ersten Blick recht unscheinbar, ihre Voraussetzungen, ihr präziser Inhalt und ihre weitreichenden Implikationen bedürfen der Erläuterung.
Zu den Voraussetzungen gehören einige ontologische Annahmen. Wittgenstein vertritt hier wie Russell den logischen Atomismus. Gewisse
"Gegenstände bilden die Substanz der Welt"
(was genau diese "Gegenstände" sind, sagt Wittgenstein nicht (und könnte es auch nicht), aber in seinen Sätzen zeigt sich, daß er an so etwas wie logische Individuen, Begriffe und Relationen denkt, es ist diesen Gegenständen "wesentlich, der Bestandteil eines Sachverhaltes sein zu können", die "Konfiguration der Gegenstände bildet den Sachverhalt" (solche "Sachverhalte" sind z. B., daß diese Billardkugel rot ist, daß Peter Mary liebt, daß Hamburg zwischen Lübeck und Bremen liegt, "Gegenstände" sind dann nicht nur diese Billardkugel, Peter und Bremen, sondern auch die Eigenschaft Rot und die Relation . . . liegt zwischen . . . und . . . ).
Sachverhalte sind mögliche Konfigurationen von Gegenständen, wenn sie auch wirklich diese Konfiguration haben, so spricht Wittgenstein vom "Bestehen von Sachverhalten", von einer (positiven) "Tatsache". Weiter ist wesentlich, daß die durch die Konfiguration der "Gegenstände" gebildeten "Sachverhalte" in gewissem Sinne elementar, atomar sind, d. h. nicht aufeinander zurückgeführt werden können:
"Die Sachverhalte sind von einander unabhängig. Aus dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Sachverhaltes kann nicht auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines anderen geschlossen werden"
(ohne weitere Analyse ist somit keineswegs klar, ob die genannten Beispiele in diesem Sinne atomar sind). Unter dieser Voraussetzung bildet die Gesamtheit der Sachverhalte einen "logischen Raum" von so vielen Dimensionen, wie es (atomare) Sachverhalte gibt, und in jeder Dimension können zwei Werte (positiv, negativ) angenommen werden. Die Gesamtheit aller (positiven) Tatsachen (und damit auch alle Sachverhalte, die nicht bestehen) bilden die "Welt", die "gesamte Wirklichkeit":
"Das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit".
Modelle sind Bilder der Wirklichkeit, aber von ganz anderer Art als z. B. Photographien. Modelle können vereinfachte, auf das für wesentlich Gehaltene beschränkte Bilder sein; aber für dieses Wesentliche müssen sehr präzise Bedingungen erfüllt sein. In einem Modell (...) muß jedem Gegenstand einer bestimmten Art (...) des Originals genau ein Element einer bestimmten Art (...) des Modells entsprechen. Weiter muß jeweils die "Möglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten", die "Form" eines Gegenstandes im Modell wiedergegeben werden (...):
"Was jedes Bild, welcher Form immer, mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie überhaupt – richtig oder falsch – abbilden zu können, ist die logische Form, das ist, die Form der Wirklichkeit."
Durch "die Form der Abbildung" stellt das Bild "dar, was es darstellt" (und was "das Bild darstellt, ist sein Sinn"), "unabhängig von seiner Wahr- oder Falschheit".
"Um zu erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen. Aus dem Bild allein ist nicht zu erkennen, ob es wahr oder falsch ist. Ein a priori wahres Bild gibt es nicht".
Eine Strukturformel kann aber formal völlig korrekt sein und dennoch falsch. Der "Zusammenhang der Elemente des Bildes" muß auch die "Art und Weise, wie die Gegenstände im Sachverhalt zusammenhängen", die "Struktur" des Sachverhaltes (für die die Form nur die Möglichkeit ist) wiedergeben, erst dann handelt es sich bei dem Bild um ein zutreffendes Modell (man spricht dann auch von einer isomorphen Abbildung).
Auch die möglichen Konfigurationen sinnlich wahrnehmbarer (Laut- oder Schrift-) Zeichen sind Sachverhalte, konkrete Äußerungen von Sätzen also Tatsachen. Als solche können sie, wenn die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind, auch Modelle von bestehenden Sachverhalten sein. (...)
"Die Umgangssprache ist ein Teil des menschlichen Organismus und nicht weniger kompliziert als dieser. Es ist menschenunmöglich, die Sprachlogik aus ihr unmittelbar zu entnehmen. Die Sprache verkleidet den Gedanken. [ . . . ] Die stillschweigenden Abmachungen zum Verständnis der Umgangssprache sind enorm kompliziert. [ . . . ] So entstehen leicht die fundamentalsten Verwechslungen (deren die ganze Philosophie voll ist)".
Wittgenstein intendierte daher eine künstliche Idealsprache:
"Um diesen Irrtümern zu entgehen, m¨ussen wir eine Zeichensprache verwenden, welche sie ausschließt, indem sie nicht das gleiche Zeichen in verschiedenen Symbolen, und Zeichen, welche auf verschiedene Art bezeichnen, nicht äußerlich auf die gleiche Art verwendet. Eine Zeichensprache also, die der logischen Grammatik – der logischen Syntax – gehorcht. (Die Begriffsschrift Freges und Russells ist eine solche Sprache, die allerdings noch nicht alle Fehler ausschließt)".
Den einfachsten, atomaren Tatsachen entsprechen als Modell einfachste Sätze: "Der einfachste Satz, der Elementarsatz, behauptet das Bestehen eines Sachverhaltes." Nun gibt es Sätze, für die das nicht gilt, z. B. "Der schöne Peter liebt Mary, nicht Jane". Hier wird von mehreren Sachverhalten gesprochen, nämlich davon, daß die Sachverhalte, daß Peter schön ist und daß Peter Mary liebt, bestehen und daß der Sachverhalt, daß Peter Jane liebt, nicht besteht. Der komplexe Satz ist genau dann wahr, wenn die Teilsätze "Peter ist schön" und "Peter liebt Mary" wahr sind und der Teilsatz "Peter liebt Jane" falsch ist, der Wahrheitswert des komplexen Satzes ergibt sich eindeutig aus den Wahrheitswerten der Teilsätze:
"Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze".
Wüßten wir den Wahrheitswert aller Elementarsätze, so wüßten wir auch den Wahrheitswert aller Sätze; und: wir hätten ein perfektes Modell "der Tatsachen im logischen Raum", der tatsächlichen "Welt" im Rahmen möglicher Welten.
Wittgenstein erläutert das in einem Gleichnis:
"Ein Bild zur Erklärung des Wahrheitsbegriffes: Schwarzer Fleck auf weißem Papier; die Form des Fleckes kann man beschreiben, indem man für jeden Punkt der Fläche angibt, ob er weiß oder schwarz ist. Der Tatsache, daß ein Punkt schwarz ist, entspricht eine positive – der, daß ein Punkt weiß (nicht schwarz) ist, eine negative Tatsache".
Mit einer idealen Sprache könnten wir solche Flecke (und damit den Zustand der Welt in jedem Augenblick bzw. Ausschnitte davon) gleichsam punktgenau beschreiben. Mit den formalen Sprachen, die wir tatsächlich benutzen – seien es die Formeln der Mechanik oder irgendwelche Programmiersprachen –, ist das nur vergröbernd möglich: ich kann der Beschreibung des Fleckes
"beliebig nahe kommen, indem ich die Fläche mit einem entsprechend feinen quadratischen Netzwerk bedecke und nun von jedem Quadrat sage, daß es weiß oder schwarz ist. Ich werde auf diese Weise die Beschreibung der Fläche auf eine einheitliche Form gebracht haben. Diese Form ist beliebig, denn ich hätte mit dem gleichen Erfolge ein Netz aus dreieckigen oder sechseckigen Maschen verwenden können. [ . . . ] Den verschiedenen Netzen entsprechen verschiedene Systeme der Weltbeschreibung. Alle Sätze der Weltbeschreibung müssen aus einer Anzahl gegebener Sätze . . . auf eine gegebene Art und Weise erhalten werden. [ . . . ] Welches Gebäude immer du aufführen willst, jedes mußt du irgendwie mit diesen und nur diesen Bausteinen zusammenbringen".
(Allerdings: Quadrate sind keine Punkte, in einer solchen digitalen Beschreibung wird, wie bei den Pixeln auf meinem Monitor, eine diagonale Linie immer eine Treppe sein.)
Die Elemente eines Satzes bilden nicht einfach eine Konfiguration wie die Sterne des Sternbildes Orion, wir bilden sie; sie sind nicht einfach ein Modell der Tatsachen, wir gebrauchen sie als Modell: "Wir benützen das sinnlich wahrnehmbare Zeichen (Laut- oder Schriftzeichen etc.) des Satzes als Projektion der möglichen Sachlage." Insofern ist der Satz ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken: die "Projektionsmethode ist das Denken des Satz-Sinnes", im "Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus." Das "angewandte, gedachte Satzzeichen", "der sinnvolle Satz", "der Gedanke", ist dann das "logische Bild der Tatsachen".
Denken ist also, so kann man zusammenfassen, nach Wittgenstein ein Abbilden mit Zeichen gemäß der logischen (Elementar-) Form derWelt. Und den Sinn ("seine Übereinstimmung, und Nichtübereinstimmung mit den Möglichkeiten des Bestehens und Nichtbestehens der Sachverhalte") eines Satzes "verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist." Damit ist der Raum der "Gesamtheit der wahren Sätze", "die gesamte Naturwissenschaft" abgesteckt: ",Ein Sachverhalt ist denkbar‘ heißt: Wir können uns ein Bild von ihm machen." Allerdings:
"Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort".
Der Philosophie bleibt als Zweck "die logische Klärung der Gedanken", denn alles
"was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles was sich aussprechen läßt, läßt sich klar aussprechen".
Damit ist aber auch dem Denken eine Grenze gezogen, die Philosophie
"soll das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare. Sie soll das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen. [ . . . ] Wir können nichts Unlogisches denken, weil wir sonst unlogisch denken müßten. [ . . . ] Die Logik ist transcendental. [ . . . ] Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen ( . . und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein)".
Wittgenstein hat damit das Denken auf die Logik zurückgeführt, nicht umgekehrt.
"Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt",
sie stellt ihr "Gerüst" dar, wir können ihr folgen, sie aber nicht begründen ("Die Logik muß für sich selber sorgen"), ja, noch nicht einmal darstellen. Der sinnvolle Satz, der Gedanke, ist das logische Bild der Tatsachen, die
"Form der Abbildung aber kann das Bild nicht abbilden; es weist sie auf. [ . . . ] Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen zu können – die logische Form. Um die logische Form darstellen zu können, müßten wir uns mit dem Satz außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb derWelt. Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. [ . . . ] Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit. [ . . . ] Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische."